Empowerment/Selbstvertretung
Als Selbstvertretungen oder auch Selbstorganisationen bezeichnen wir an dieser Stelle zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse, die sich aus der Situation und den Interessen von Menschen mit einer bestimmten sozialen, kulturellen oder politischen Identität herausbilden und gestalten. Sie bestehen hauptsächlich aus Mitgliedern, die diese Identität oder dieses Anliegen teilen und werden von ihnen selbstverwaltet. Selbstorganisationen sind in ihrer Zielsetzung und Gestaltung unabhängig von staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren wie Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen. Sie engagieren sich mit vielfältigen Schwerpunkten in verschiedenen Praxisfeldern, von politischer Bildung über Kultur und Wohlfahrt bis hin zu politischem Aktivismus, Beratung und Freizeit. Selbstorganisationen zeichnen sich durch verschiedene Professionalitätsniveaus aus. Oft spielen ehrenamtliche Strukturen eine sehr wichtige Rolle. Dies gilt im besonderem Maße für noch relativ neue Organisationen. In dem hier beschriebenen Feld konzentrieren wir uns auf Selbstorganisationen, die sogenannten gesellschaftlichen Minderheiten wie LSBTI-Communities, Migrant*innenselbstorganisationen, postmigrantische Bewegungen, Organisationen für Menschen mit Behinderungen etc. sowie politischen und sozialen Bewegungen zuzuordnen sind. Diese Organisationen stehen häufig vor Herausforderungen, wie begrenzte finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen sowie gesellschaftliche Benachteiligung. Das wirkt sich darauf aus, dass sie zum Beispiel seltener Aufmerksamkeit in der Wissenschaft und Politik erregen, wenig in Dachverbänden und Netzwerken vernetzt sind, kaum formalrechtlich anerkannt und von wichtigen Finanzströmen ferngehalten sind.
Empowermentgruppierungen stellen eine bestimmte Form solcher Selbstorganisationen dar. Empowerment wird hier im Sinne von Selbstbefähigung und Selbstermächtigung zivilgesellschaftlicher Gruppen verstanden, um bestimmte Ziele und Interessen sichtbar zu machen, sie gegenüber anderen Interessensgruppen zu vertreten und demokratisch durchzusetzen. Im Unterschied zu anderen Interessensvertretungen möchten Empowermentgruppierungen und -organisationen hegemonialen Herrschafts- und Machtverhältnissen – auch hinsichtlich der Hilfe und Unterstützung anderer – durch Stärkung ihrer eigenen Community entgegenwirken. Häufig sind solche Organisationen auch Anbieter von Empowermentformaten, Safe- und Bravespaces sowie anderen Formen der Empowermentarbeit.
Das Verhältnis von Selbstorganisationen marginalisierter Gruppen und Empowermentorganisationen zu den Feldern politischer Bildung ist uneindeutig und ungeklärt. Arbeitsschwerpunkte, Ansätze und Strategien der Organisationen sowie das Verhalten der etablierten Strukturen spielen hierbei entscheidende Rollen.
Beispiel: „politische Bildung in muslimischer Trägerschaft“
Auf einer digitalen Pinnwand (Padlet) haben wir das Feld politischer Bildung in muslimischer Trägerschaft anhand der Ordnungskategorien Recht, Politik, Wissenschaft und Praxis beschrieben, um an diesem exemplarisch Besonderheiten, Bedarfe, Möglichkeiten und Herausforderungen von politischer Bildung im Kontext von Empowerment und Selbstvertretung darzustellen.
Zum Padlet: https://transfer-politische-bildung.de/transfermaterial/topografie-der-praxis/muslimische-traegerschaft
Beispiel von Empowermentgruppierungen und Selbstorganisationen
neue deutsche organisationen e.V.https://neuedeutsche.org/de
Lesben- und Schwulenverbandhttps://www.lsvd.de
jog! – Jugendliche ohne Grenzen c/o Bundesfachverband umF e.V.
http://jogspace.net/about
Queere Jugend NRW/ Queeres Netzwerk NRW e.V.https://queere-jugend-nrw.de
Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland e.V.https://www.abid-ev.de/ueber-uns
Bundesverband russischsprachiger Elternhttps://www.bvre.de/index.php
Muslimische Akademie Heidelberg i.G.https://muslimische-akademie-heidelberg.de
Wissenschaft und Fachdebatte
Can, Halil (2013): Empowerment aus der People of Color-Perspektive. Reflexionen und Empfehlungen für die Durchführung von Empowerment-Workshops gegen Rassismus.
https://www.eccar.info/sites/default/files/document/empowerment_webbroschuere_barrierefrei.pdf (abgerufen am: 10.11.2023)
Can, Halil (2022): Doing Empowersharing – Empowerment und Powersharing als machtkritische und inklusive Handlungsstrategien gegen Rassismus und intersektionale Diskriminierungen. In: Mecheril, Paul / Rangger, Matthias (Hrsg.): Handeln in Organisationen der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden. S. 397–418
Chehata, Yasmine / Jagusch, Birgit (Hrsg.) (2023): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionen – Arenen. 2. Auflage. Weinheim
Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich) (2019): Anerkannte Partner – unbekannte Größe? Migrantenorganisationen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Berlin
https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2019/11/SVR-FB_Policy-Brief-Migrantenorganisationen.pdf
Madubuko, Nkechi (2021): Praxishandbuch Empowerment. Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen begegnen. Weinheim/Basel
Migrantenselbstorganisationen – Umfang, Strukturen, Bedeutung. Kurzdossier der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (2013)http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/158865/migrantenselbstorganisationen
Naumann, Siglinde (2010):Bildungsprozesse in bürgerschaftlichen Initiativen. Eine empirische Studie zur Transformation konjunktiver Orientierungen. Wiesbaden
Reinecke, Meike / Zitzelsberger, Olga / Stegner, Kristina / Latorre, Patricia / Kocaman, Iva (2010): Forschungsstudie Migrantinnenorganisationen in Deutschland
https://www.bmfsfj.de/blob/94342/bbf84a8a898dde66138874e2efb6b944/migrantinnenorganisationen-in-deutschland-abschlussbericht-data.pdf
Wissenschaftliche Grundlagen
Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich) (2019): Anerkannte Partner – unbekannte Größe? Migrantenorganisationen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Berlin
https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2019/11/SVR-FB_Policy-Brief-Migrantenorganisationen.pdf
Migrantenselbstorganisationen – Umfang, Strukturen, Bedeutung. Kurzdossier der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (2013)
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/158865/migrantenselbstorganisationen
Naumann, Siglinde (2010): Bildungsprozesse in bürgerschaftlichen Initiativen. Eine empirische Studie zur Transformation konjunktiver Orientierungen. Wiesbaden
Reinecke, Meike / Zitzelsberger, Olga / Stegner, Kristina / Latorre, Patricia / Kocaman, Iva (2010): Forschungsstudie Migrantinnenorganisationen in Deutschland
https://www.bmfsfj.de/blob/94342/bbf84a8a898dde66138874e2efb6b944/migrantinnenorganisationen-in-deutschland-abschlussbericht-data.pdf
Bezug zu politischer Bildung
Selbstvertretungsorganisationen entwickeln häufig eigene politische Bildungsangebote. Diese können einen Teil der Arbeit der Organisation sein oder auch ihr Arbeitsschwerpunkt. Organisationen mit dem Schwerpunkt politische Bildung können als Anzeichen einer fortgeschrittenen Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Zivilgesellschaft betrachtet werden. Manche Einrichtungen richten sich mit ihrem politischen Bildungsangebot hauptsächlich an ihre Mitglieder, meist mit Bezug zu ihren Interessen und Zielen. Andere richten sich an alle Interessierten und wollen damit vor allem Teil des öffentlichen Diskurses sein und ihre Perspektive darin stärken.
Auch für einige Empowermentorganisationen ist politische Bildung ein wichtiges Werkzeug, um Selbstermächtigung zu ermöglichen. Sie soll Mitgliedern (und weiteren Interessierten) helfen, politische Zusammenhänge zu verstehen und politische Urteils- und Handlungskompetenz zu stärken. Auch Empowermentkonzepte, die nicht als explizite politische Bildungsarbeit gedacht sind, können Anlässe für politische Bildung schaffen. Zum Beispiel, wenn sie Macht- und Herrschaftsstrukturen kritisch hinterfragen oder die kritische Reflexion von Internalisierungsprozessen und Differenzzuschreibungen fördern.
Bezug zu politischer Bildung
Wissenschaft und Fachdebatte
Abushi, Sakina / Asissi, Pieree (2020): Die „Anderen“ empowern? Versuch einer Begriffsbestimmung für die politische Bildung und pädagogische Praxis. Online: https://profession-politischebildung.de/grundlagen/diversitaetsorientierung/empowern/ (abgerufen am: 10.11.2023)
Amankwah, Patience / El-Hawari, Veronika Sara (2023): Empowerment als intervenierende politische Bildungsarbeit: Warum Rassismuskritik als Querschnittsthema gedacht werden muss und wie sie intersektional mit der Differenzkategorie Klasse innerhalb der Institution Hochschule relevant wird. In: Pohlkamp, Ines / Carstens, Lea /Nagel, Björn (Hrsg.): Klassismus und politische Bildung. Intersektionale Perspektiven und Reflexionen aus der Praxis. Frankfurt a.M. S. 86-101
Black Empowerment Academy (2022): Erfahrungen und Visionen schwarzer politischer Bildungsarbeit. Online: https://kompad.de/wp-content/uploads/2023/05/EOTO_KomPad_BlackEmpowermentAcademy_Broschu%CC%88re.pdf (abgerufen am: 10.11.2023)
Emde, Oliver (2022): Politische Stadtrundgänge. Außerschulische Lernarrangements zwischen Schule und sozialen Bewegungen. Frankfurt/M.
Fritz, Karsten / Maier, Katharina / Böhnisch, Lothar (2006): Politische Erwachsenenbildung. Trendbericht zur empirischen Wirklichkeit der politischen Bildungsarbeit in Deutschland. Kapitel 12: Politische Bildung und soziale Bewegungen; Kapitel 13: Zivilgesellschaft als Zukunftsperspektive der politischen Bildung? Weinheim/München, S. 175-192
Jänicke Christin / Hunger, Anne (2017): „Es wurde halt gemacht“ – Politische Bildung als gelebte Praxis der ostdeutschen Antifabewegung. In: Jänicke Christin / Paul-Siewert, Benjamin (Hrsg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Münster, S. 134-149
Overwien, Bernd (2013): Informelles Lernen in politischer Aktion und sozialen Bewegungen. In: Außerschulische Bildung, Zeitschrift des Arbeitskreises außerschulischer Bildungsstätten (3), S. 247–254.
Rajanayagam, Iris (2022): Allyship, Powersharing und Empowerment. Eine kri5sche Betrachtung. In: Fachstelle Gender & Diversität NRW (Hrsg.): Macht. Wenn Teilen stärkt. Reflexionen & Impulse für eine empowermentorien5erte Praxis, Dokumenta5on der FUMA Fachtagung 26. & 27.04.2022, S. 12–14
Sommer, Moritz / Rucht, Dieter / Haunss, Sebastian / Zajak, Sabrina (2019): Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland
https://www.boell.de/sites/default/files/fridays_for_future_studie_ipb.pdf?dimension1=division_iup
Trumann, Jana (2013): Lernen in Bewegung(en). Politische Partizipation und Bildung in Bürgerinitiativen. Bielefeld
https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/7e/a0/f7/oa9783839422670.pdf
Kenner, Steve (2021): Politische Bildung in Aktion. Eine qualitative Studie zur Rekonstruktion von selbstbestimmten Bildungserfahrungen in politischen Jugendinitiativen. Wiesbaden
Die Fachstelle politische Bildung informiert
Fachtagung der Fachstelle politische Bildung 2020: Videoimpulse zu „Neue? Politische Bildung? Politische Bildung und Empowerment-Initiativen“ (Session 7)
https://transfer-politische-bildung.de/transfer-aktuell/fachtagung-2020/session-7
Artikel: Posenau, Dirk (2023): Was ist politische Bildung in muslimischer Trägerschaft? https://transfer-politische-bildung.de/fileadmin/user_upload/Fotos/Transfermaterial/Posenau-2023-PolBil-in-muslimischer-Tragerschaft.pdf (abgerufen am: 10.11.2023)
Datenbankeintrag: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention
https://transfer-politische-bildung.de/transfermaterial/datenbank/#/d213